Günter Spießl

Studium: Elektrotechnik mit Schwerpunkt Nachrichtentechnik (bis 1967)
(ehemaliger) Arbeitgeber: 1967 bis 1981 GRUNDIG AG Fürth, 1981 bis 2005  LEONI AG Nürnberg
(ehemalige) Position: In Personalunion Werkleiter, Member of the Board LCW
China, Technischer Projektleiter  

1. Wenn Sie zurückblicken, wie würden Sie Ihr Studium kurz beschreiben?
Ich zählte damals zum ersten Studienjahrgang, der 1967 sein Ingenieursstudium u.a. in Nachrichtentechnik und Datenverarbeitung unter Professor Alfred Falter erfolgreich abschloss. Bei der Vielfalt der einzelnen Fächer, die wir während unseres Studiums behandelten, galt mein besonderes Interesse der Elektronik, der Hochfrequenztechnik und der Leitungstheorie. Ich fragte mich damals, warum wir uns auch mit „Ballast“, wie Maschinenelemente oder Elektrische Maschinen befassen mussten. Meine spätere berufliche Laufbahn lehrte mich jedoch, wie wichtig ein umfassendes Studium auch mit vermeintlichen Randfächern ist.

2. Was waren die wichtigsten Stationen auf Ihrem beruflichen Weg?
Meinem fachlichen Interesse „Hochfrequenztechnik“ entsprechend bewarb ich mich als Jungingenieur bei GRUNDIG, dem damaligen Marktführer für Unterhaltungselektronik, für die Stelle eines technischen Assistenten der Werksdirektion einer Produktionsstätte für HI-FI-Anlagen. Bereits nach zwei Berufsjahren wurde ich gemeinsam mit einem Kollegen mit der Planung und dem Aufbau eines Zweigwerkes für Rundfunkgeräte beauftragt, dessen Leitung ich ein Jahr später übernahm.  Anfang der 1980er-Jahre ging es mit der erfolgsverwöhnten Ära bei GRUNDIG zunehmend abwärts. Die Japaner wurden in Europa stark. Damit war nach 14 Dienstjahren meine Karriere bei GRUNDIG für mich zu Ende, nach einer Zeit des technologischen Wandels von der Röhrentechnik zur Halbleitertechnik. 

Mein Weg führte mich als Werkleiter zu einem deutschen, mittelständischen Unternehmen für Draht, Kabel und Bordnetzsysteme. Hier bekam ich eine völlig neue Perspektive geboten: Ich konnte mein im Studium erlerntes Wissen über Leitungstheorie und Elektrische Maschinen einbringen sowie aufgrund der schnellen Expansion des Unternehmens mich bei Auslandseinsätzen profilieren.

Nach einer Produktbereinigung, einer Umstrukturierung und mehrfachen Erweiterung der von mir als Standortleiter übernommenen Fabrik konzentrierte ich mich vorrangig auf die von uns im Unternehmen entwickelte neue Fertigungstechnik elektrischer Leiter von LAN-Kabeln für Netzwerkverbindungen. Mit diesem technologischem „Quantensprung“ in der Produktion gelang es uns, innerhalb weniger Jahre, Weltmarktführer in Qualität und günstigen Herstellungskosten für LAN-Leiter zu werden. Einhergehend mit der Belieferung europäischer Märkte und darüber hinaus globaler Kunden, vorrangig in den USA und Asien, wurden für mich zunehmend Dienstreisen in diese Länder zur technischen Betreuung unserer Kunden notwendig. Flieger, Hotels und andere Länder wurden für mich zur „zweiten Heimat“.

Meine weltweiten Dienstreisen und längeren Auslandsaufenthalte erweiterten meinen Horizont, entwickelten in mir eine Weltoffenheit, die ich vorher so nicht kannte. Diese tolerante Denkweise gegenüber anderen Kulturen gab ich an meine drei damals heranwachsenden Kinder weiter und ermöglichte ihnen dabei zu Studienzwecken längere Auslandsaufenthalte in England, den USA und China. Eine meiner Töchter stieg daher in die Reisebranche ein und ist international unterwegs, mein Sohn studierte Sinologie, u.a. auch an der Universität in Peking, und brachte von dort eine Chinesin als seine Frau nach Deutschland mit.

Die überaus positive Geschäftsentwicklung in Deutschland und im Ausland sprengte trotz mehrfacher Fabrikerweiterungen die Kapazitäten an unserem deutschen Produktionsstandort, stellten Logistik- und Vertriebskosten in Frage und führten daher zur Vorstandsentscheidung, mich Ende der 1980er-Jahre neben meiner Werkleitertätigkeit in Deutschland als technischen Projektmanager mit dem Aufbau einer gleichartigen Fabrik in den USA für den dortigen Markt, inklusive Standortsuche, Planung, Bau, Mitarbeiterschulung und Inbetriebnahme, zu beauftragen.

Dies war für mich eine völlig neue Herausforderung, vor allem die amerikanische Lebensweise und die Verhandlungen in der Fremdsprache Englisch mit den dortigen Behörden und Firmen. War ich dem gewachsen? Aber die Praxis zeigte: Man wächst mit den Aufgaben. Die Standortauswahl fiel auf Chicopee in Massachusetts, Nähe Boston. In nicht mal einem Jahr stand einschließlich Planung die Fabrik.

Fünf Jahre lang flog ich regelmäßig in meine damals „zweite Heimat“ in den Neu-England-Staaten und lernte das „American way of live“. Doch ließen die amerikanischen Kollegen uns immer wieder spüren, wie schwer sie sich damit taten, unternehmerische Weisungen aus Deutschland zu akzeptieren.

Die Fabrik in den USA entwickelte sich schnell und erfolgreich; auch „mein“ deutscher Standort lief gut.  Eigentlich hätte jetzt alles für mich einen etwas ruhigeren Gang gehen können.

Wenn nicht unser Vorstand die Entscheidung getroffen hätte, nun den Bau einer weiteren gleichartigen Fabrik für den damals auch stark expandierenden LAN-Kabelmarkt in Asien anzuordnen, und zwar in der Volksrepublik China.

1995 wurde ich vom Vorstand somit als technischer Projekteiter mit einem neuen Vorhaben beauftragt. Von unserer künftigen Produktionsstätte in China aus sollten neben Abnehmern in China Kunden in Japan, auf den Philippinen, in Hongkong und Südkorea beliefert werden.

Volksrepublik China? Ich sollte nach China? Mir fuhr ein gewaltiger Schreck durch alle Glieder. Was wusste ich damals schon wirklich über dieses Land, über seine politischen Strukturen, seine Kultur, seine Geschichte, die Schrift und Sprache, das Klima, die Essgewohnheiten, die Denk- und Lebensweise der Menschen, die Gesundheitsvorsorge und die Risiken? Wenig, ja nahezu gar nichts. Und ich hatte auch eine Familie.

Die Standortwahl fiel auf Changzhou, eine Stadt mit etwa 3 Millionen Einwohner*innen und einer riesigen neuen Industriezone.

Mein erster Flug für die Vorbereitung dieses Projekts führte mich in den Stadtstaat Singapur, wo ich auf „neutralem Boden“ die technischen Verhandlungen mit unserem künftigen Joint Venture-Partner führen sollte. Ich war stark beeindruckt von diesem Treffen, von Singapur, der asiatischen Esskultur und vor allem vom absolut weltmännischen Auftreten unseres chinesischen Partners.

Nach der Rekrutierung eines kleinen chinesischen Führungsteams begann für unser chinesisches Team ein dreimonatiges technisches Training in dem von mir geleiteten Werk hier in Deutschland. Parallel dazu wurden zeitgleich Produktionsanlagen von Deutschland nach China verschifft und in unsere „Joint venture“- Fabrik in Changzhou transportiert. Diese wurden dort ab Mai 1995 unter meiner Aufsicht installiert und anschließend in Betrieb genommen. Was ich damals noch nicht wusste:  Ab Mai 1995 sollte Changzhou mit einigen Unterbrechungen und häufigem Pendeln für nahezu 10 Jahre bis zum Eintritt in meinen Ruhestand meine zweite Heimat werden.

Es ist unmöglich, alle meine Erlebnisse und Erfahrungen in China im Detail zu beschreiben. Eine für mich sehr wichtige Erfahrung, auch im Vergleich zu meinen beruflichen Erkenntnissen in den USA, möchte ich jedoch besonders erwähnen. Sie hat mich bis heute begleitet, fasziniert, meinen Blickwinkel und meine Denkweise erweitert: Es ist das kulturelle Erbe von Konfuzius, dem großen Lehrer Chinas seit 2500 Jahren. Konfuzius legte besonderen Wert auf Bildung und vor allem den Respekt Lehrern gegenüber. Diesen ungebremsten Wissensdurst, diesen Respekt gegenüber „Lehrern“, auch ganz besonders uns deutschen Ingenieuren gegenüber, habe ich außer in China in keinem anderen der von mir berufsbedingt bereisten Ländern so kennengelernt.

Hier noch in Stichpunkten ein paar Erfahrungen aus meinem beruflichen Aufenthalt und Alltag in Changzhou, vor allem von meinem ersten Aufenthaltsjahr 1995:

Kaum jemand spricht Englisch und ich kann nicht Chinesisch, viele Rad- und Motorradfahrer, relativ wenig Autos, chaotischer Verkehr, schlechte Luft, jeder trägt Mundschutz, im Hotel braunes Wasser aus der Wasserleitung, außer mir im Hotel kein westlicher Ausländer, ich wurde auf der Straße als „Exote“ bestaunt, Schrift und Sprache, kein westliches Essen, grüner Tee, Wildtiermärkte mit Schlangen, Skorpione u.ä., keine Sonne am Himmel sichtbar, im Juli/August über 40 Grad C bei über 90% Luftfeuchtigkeit, man sollte „trinkfest“ sein …

In der Fabrik, die nach Inbetriebnahme der installierten Maschinen im Juni/Juli 1995 gut anlief, gab es kaum Kommunikationsprobleme; das zwischenmenschliche Klima mit den Chinesen war gut, ich wurde respektvoll als „Lehrer“ behandelt, meine Anweisungen wurden unverzüglich umgesetzt. Aber der elektrische Strom war knapp; es wurde jeden Tag bei geplanter 24-Stunden-Produktion rund um die Uhr für jeweils ein bis zwei Stunden unangekündigt der Strom abgeschaltet; das bedeutete Produktionsschrott und neues Einrichten und Anfahren der Maschinen; für uns also inakzeptabel. Dieses existenzielle Problem abzustellen, war für mich eine der ersten größten Herausforderungen. Es ging um den Mann, der am Schalthebel der Stromverteilung saß, es ging um Bakschisch, um Korruption; für mich auch nicht akzeptabel. Also:  Meldung an das Changzhou-Government. Und das Problem wurde -wie auch immer- gelöst. Das nächste Problem, das sich auftat, war in der Person unseres Joint Venture- Partners zu sehen, der sich gegen Ende der 1990er-Jahre immer weniger an getroffene Vereinbarungen und Verträge hielt. Also musste der Bau der eigenen Fabrik in Changzhou mit Nachdruck in Angriff genommen werden. Mit der Planung des neuen Werkes nach deutschem Qualitätsstandard kamen zusätzlich besonders schwierige Aufgaben auf mich zu, da diese mit meiner eigentlichen Fachkompetenz wenig gemein hatten.

Bei meinen Verhandlungen für die Nutzung eines geeigneten Grundstücks in der Industriezone hatte ich in mehreren Verhandlungsrunden mit einem Behördenvertreter zu tun, der offensichtlich besonders begehrte Industrieflächen bevorzugt an Firmen vermittelte, die ihm dafür „unter dem Tisch“ Bakschisch anboten; er war korrupt. Von unserem Vorstand war ich jedoch klar angewiesen, mich unter keinen Umständen auf Korruption einzulassen.

Eine der nachhaltigsten Erinnerungen an meine China-Aufenthalte: Bei einem weiteren Verhandlungsgespräch um das Grundstück saß mir ein anderer, mir unbekannter Beamter gegenüber. Von unserem chinesischen Plant-Manager wurde ich hinterher informiert, dass mein vorheriger Verhandlungspartner in Sachen Grundstück wegen verbotener Korruption zwischenzeitlich hingerichtet worden war.

Nachdem die Landnutzungsrechte für ein geeignetes Fabrikgelände im New District an der Chaohu Road, Changzhou, vertraglich abgeschlossen waren, gingen die Fabrikplanungen und anschließend der Bau des Werkes mit gesicherter Hochspannungsversorgung sehr zügig voran. Bereits Ende 2001 konnten die ersten Maschinen von der alten Fabrik in das neue Gebäude verlagert und 2002 die gesamte Produktion aufgenommen werden. Die Fabrik konnte nun im Beisein vieler Ehrengäste, darunter der deutsche Konsul aus Shanghai, mit großem chinesischem Zeremoniell eingeweiht werden. Als besondere Ehre und als erster westlicher Ausländer erhielt ich für meine langjährige Tätigkeit „zum Wohle des chinesischen Volkes“ in Changzhou, verbunden mit der erfolgreichen Ansiedlung einer deutschen Fabrik mit Schaffung qualifizierter Arbeitsplätze, vom Government der Stadt Changzhou, nach einer Befragung durch ein Gremium, in einer besonderen Feierstunde mit Presse und Fernsehen die Ehrenbürgerwürde.

Als kurzes „Intermezzo“ zu meinen jeweils längeren Auslandsaufenthalten in den USA und China kamen 2001 Planungen eines neuen Draht- und Litzenwerkes in Polen, und zwar in Kobierzyce, in der Nähe von Breslau. Kurz vor der Inbetriebnahme der neuen Fabrik in Changzhou begann ich hier mit den Planungen und Verhandlungen mit den Behörden vor Ort und übergab dann diese Aufgaben zur weiteren Bearbeitung an Kollegen.

3. Wie hat Ihr Studium Ihre berufliche Tätigkeit geprägt?
Mein Studium hat meine berufliche Tätigkeit sehr nachhaltig geprägt. Während meines Studiums wurde ich auch mit fachlichen Themen (z.B. im Bereich Maschinenbau) konfrontiert, wo ich nie gedacht hätte, dass ich dieses spezielle Fachwissen je in meinem Berufsleben als Elektro-Ingenieur brauchen würde. Meine berufliche Laufbahn hat mich genau das Gegenteil gelehrt. Auch während des Studiums angelerntes vermeintlich später nutzloses Wissen war im Verlauf der Berufsjahre sehr hilfreich. Man lernt nie etwas umsonst.

4. Was waren die wichtigsten drei Kompetenzen in Ihrem Arbeitsalltag?

  • Die Kompetenz, sich vor anstehenden neuen Aufgaben vorab fachlich gründlich zu informieren.
  • Die Kompetenz der Entscheidungsfreudigkeit und des Durchsetzungsvermögens
  • Die Kompetenz, weltoffen und unvoreingenommen zu Denken und zu Handeln

5. Wenn Sie mit dem Wissen und der Erfahrung von heute Ihrem Studierenden-ICH einen Tipp geben könnten, was würden Sie ihm raten?
Meine beruflich bedingten Dienstreisen und Auslandsaufenthalte in Europa, USA, Israel und vor allem in Asien haben mich -und damit auch meine Familie- nachhaltig in meiner Denkweise und meiner Weltoffenheit geprägt. Ich habe die unterschiedlichsten Kulturen, politischen Gegensätze, Länder und Leute kennengelernt.

Wer mit Menschen anderer Kulturkreise Kontakt pflegt, auch wenn es rein beruflich ist, muss auch etwas über die Denkweise dieser Menschen wissen. Ich würde mich heute vorher intensiver mit der Geschichte, dem Land, der Kultur, den Lebensgewohnheiten der Menschen, mit den technischen Gegebenheiten und möglichen Risiken befassen.

Denn wir kommen nur mit Respekt und Fingerspitzengefühl zum Erfolg!

Günter Spießl